Wie ich bilde:
Bildung kann nicht verordnet werden. Sie ereignet sich in der Auseinandersetzung von Menschen mit Gegenständen oder sie findet nicht statt. Deswegen ist mein Motto: Machen lassen. Und dann schauen und steuern. Gezielt Impulse setzen. Diese Arbeitsweise nenne ich "prozessual". Ich arbeite mit Schülerinnen und Schülern produktorientiert, fordere immer am oberen Ende des Möglichen. Auch die sogenannten Schwächeren. Da gibt's echte Aha-Erlebnisse. Ist das nicht schön?
Bildungsgegenstände und Orte:
Ich unterrichte Kreatives Schreiben, Comic und Sprachförderung. Mit diesen Themen bin ich in Hamburg in allen Schulformen unterwegs. Von innen kenne ich die Grundschulen Bahrenfelder Straße und Trenknerweg, die Stadtteilschulen MBS und die Ida-Ehre, die Gymnasien Christianeum und das Albert-Schweitzer-Gymnasium.
"We are here to stay!", lautet der Slogan der überlebenden der europäischen Flüchtlingspolitik ebenso wacker wie spitz. Wer hier ist, um zu bleiben, muss allerdings lernen, sich in der deutschen Sprache sicher zu bewegen. Viele Unterstützer/innen verstehen das und wollen Deutsch unterrichten. Hierbei gibt es einiges zu beachten, wie ich und wir in Altona in kurzer Zeit gelernt haben:
1) Entspann dich erst mal
Eine Nagelprobe auf die Nächstenliebe ist das, sagen die einen, die anderen, dass wir uns "solidarisch" zeigen müssen. Es ist spürbar, dass für alle Helfer elementare Werte auf dem Spiel stehen, und das spätestens seit Herbst, seit "wir" erleben mussten, wie Hunderte von Menschen zu Opfern der von Deutschland maßgeblich betriebenen europäischen Flüchtlingspolitik geworden sind. Das legt die Latte für unser Handeln hoch. Wir wollen unbedingt zeigen, dass wir anders sind als die, die Leiden und Sterben mitverursacht haben. Wir wollen uns engagieren. Gut so! Dieser Impuls muss allerdings in Arbeit übersetzt werden, die nicht nur "gut gemeint" ist, sondern der Sache gerecht wird, die Daniel und Soumelia wirklich weiterhilft, wenn sie in Hamburg oder anderswo heimisch werden wollen. Nicht nur für die Sprachförderung heißt das: Aktionismus runterfahren & den Kopf anstellen. Falls du zu viele Helferbotenstoffe im Blut hast, geh laufen!
2) Findet euch als Team und schafft belastbare Routinen
In der Regel wird es so sein, dass sich einige, hoffentlich kompetente Personen aus dem Unterstützerkreis zusammenfinden und Unterricht anbieten wollen. Arbeitet dabei nicht aneinander vorbei, sondern findet euch als Team und stimmt den Rahmen und die Inhalte ab: Wo soll der Unterricht stattfinden? (Container ist eher unsexy...) In welcher Frequenz könnt ihr ihn anbieten? Welche Erfahrungen bringt ihr mit? Womit wollt ihr loslegen? Bitte bedenkt, dass euer Kurs den Tagesablauf der Teilnehmer maßgeblich mitbestimmt. Und dass der Kurs, wenn ihr eure Sache gut macht, einen essentiellen Beitrag für die ihr Hierbleiben ist. Sorgt daher für einen guten Unterrichtsraum, kämpft dafür! Sorgt für geregelte Unterrichtszeiten. Kommuniziert diese gut. Stimmt euch inhaltlich des öfteren ab: Teilt den anderen mit, was ihr machen wollt oder gemacht habt, ob ihr über Klamotten oder die Grundzahlen gesprochen habt, damit eure Kollegen den Ball aufnehmen und weiterspielen können.
3) Guckt offen hin und geht angstfrei zu Werke
Wer Unterrichtserfahrung hat, soll sich angstfrei ans Werk machen. Er oder sie trifft nicht auf bedauernswerte Flüchtlinge, sondern auf Menschen, die als Erwachsene ihren Weg in Deutschland finden müssen. Man begegnet sich auf Augenhöhe. Irgendwann wird man von Josip und Moussa auch etwas über ihr Leben hören, aber zunächst guckt ihr auf den Kern der Aufgabe, die ihr euch gestellt habt. Los geht's mit einer Diagnose der Voraussetzungen, die die Kursteilnehmer mitbringen. Als Team solltet ihr einen ersten Unterricht gestalten, in dem ihr das an parallelen Stationen abcheckt. Themen sind die Lesekompetenz, die Schreibkompetenz, die Artikulation und vielleicht kleine Sätze, die im Deutschen schon beherrscht werden. Jeder Lehrende leitet eine Station, die Jungs wechseln durch: So hat jeder (selbst wenn es eine jede ist) alle Schüler an einem Tag gesehen - und jeder Teilnehmer kennt jeden Lehrenden. Bitte diskutiert untereinander hinterher die Ergebnisse. Es ist die Grundlage eurer weiteren Arbeit.
4) Korrigiert eure Erwartungen - und das heißt: schraubt sie runter
Euer Kurs ist ein Angebot. Es werden nicht alle Flüchtlinge kommen. Was die anderen machen, ist nicht euer Ding. Die Jungs sind erwachsen und müssen das selbst wissen. Bei denen, die teilnehmen, werdet ihr feststellen, dass sie einer Sprachförderung tief bedürftig sind, sie sind aber auch hoch motiviert! Ihr werdet im Vergleich merken, was die gescholtene deutsche Schule, gerade die Grundschule, alles leistet. Denn viele "Kompetenzen" sind in Ghana, Mali und anderswo nur rudimentär angelegt worden: Das Lesen selbst der Amtssprache fällt schwer, Schreibschrift ist kaum bekannt, die Artikulation von für uns selbstverständlichen Kehllauten ist ein Problem. Insofern solltet ihr bei der Konzeption jedes Unterrichtes bedenken, kleinteilig zu operieren. Ihr wollt die Präsensformen von "Haben" und "Sein" üben? Super, das ist der richtige Start, denn natürlich müssen die Jungs jetzt anfangen, grammatikalisch richtig zu sprechen. Aber denkt daran, dass ihr erstmal das mit den Personalpronomen rüberbringen müsst, wenn ihr "ich habe", "du hast" usw. einübt: Das ist ein schwieriges abstraktes Konzept, was Sprechen miteinander (ich, du, wir, ihr) oder über Dritte (er, sie, es, sie) markiert. Gebt den Teilnehmern ausreichend Zeit, euren Anschrieb an der Tafel zu kopieren. Schaut hin, ob die Kursteilnehmer dabei keine Fehler machen, nicht, dass sie Falsches einlernen. Seid ihr - nebenbei bemerkt - überhaupt sicher, dass sie wissen, wie man ein Vokalbelheft führt? Wie man Vokabeln lernt? Wie Weiterlernen ausserhalb des Unterrichts funktioniert? Das wäre ja nicht so unwichtig, wenn ihr mit dem Kurs Fortschritte erzielen wollt. In einem Satz: Setzt nichts als gegeben voraus! Und benutzt alle Aktivierungsformen, die ihr kennt! Macht eure Unterrichtsinhalte körperlich fühlbar, denn der Body hilft beim Lernen. Aus meiner bisherigen Unterrichtserfahrung kann ich nur sagen, dass ich noch nie so intensiv geschult habe: Deutschunterrichten für Flüchtlinge ist nichts für Laien.
5) Bleibt in eurer Rolle und denkt den Kurs vom Ende her
Ihr wollt einen Beitrag dafür leisten, dass sich Flüchtlinge wie Alhassan oder Stephen irgendwann in Deutschland sicher bewegen können, eine Arbeit finden, eine Partnerschaft eingehen. Und dann ist Kurs, und fünf Minuten nach Kursbeginn kommt der Erste zum Unterricht. Da heißt es, Balance zu halten: Nicht ärgerlich reagieren, aber darauf hinweisen, wann der Kurs beginnt. Dass ihr als Lehrer Pünktlichkeit schätzt, selbst, wenn ihr -innen seid. Dass es dabei auch um Respekt geht. Nicht von eurem Maßstab abrücken, denn Arbeit findet man in diesem Land nur, wenn man bestimmte Zuverlässigkeitsregeln kennt, auch wenn sie nicht Bestandteil der eigenen Herkunftskultur sein mögen. übt Rollenklarheit, lebt sie: Ihr seid kein Bespaßungsteam! Sicher, es ist nett, beim ersten Treffen für Getränke zu sorgen. Ansonsten aber nutzt bitte die Zeit, die ihr zu Verfügung habt, dafür, den besten Unterricht anzubieten, den ihr drauf habt. Ja, ihr werdet am Anfang Anweisungen noch auf Englisch geben. Aber das wollt ihr nach ein, zwei Monaten ablösen. Denn der Handwerksmeister, der Ismael eine Chance gibt, spricht Hamburger Platt und nicht Englisch. Vielleicht wollt ihr als Gruppe sogar dafür sorgen, dass die Jungs am Ende ein Zertifikat in der Hand halten. Und dafür müsst ihr in eurer Lehrenden-Rolle bleiben. Dass ihr mit Sympathie unterwegs seid, ist klar. Dass die Jungs dankbar sind, auch. Zum Verlieben aber ist der Klassenraum der falsche Ort.
"Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache." (Wilhelm von Humboldt)
Hier sieht man mich Arm-in-Arm mit Willi Humboldt am Brocken. Wir haben Rum mit Tee getrunken und belauschen jetzt die Vögel.