Crime

Ein Killer von Welt

(Auszug)


Sie starrt mich an.

"Einen Kamillentee und ein Stück Bienenstich, bitte", wiederhole ich meine Bestellung. Sie starrt mich weiter an, kratzt sich dabei mit dem Nüppchen ihres Kugelschreibers zwischen den Brüsten, ziemlich großen Brüsten, um ehrlicher zu sein, als es mein Taktgefühl eigentlich zulässt. Sie ist dunkelblond, vollschlank und keineswegs unhübsch, aber das Leben hat sie auf irgendeine Weise schlecht behandelt. Ein aufmerksamer und sensibler Mann fühlt so was.

"Haben Sie das?", frage ich fürsorglich.

"Kamillentee", antwortet sie. Dass sie mich anstarrt, hatte ich wohl schon kurz erwähnt. Ich trage einen Businessanzug und dazu ein blütenweißes Hemd, einen echten Hingucker. Trage ich hingegen Straßenfegermontur, schauen alle betreten weg.

"Kamillentee und Negerkuss", wird meine Bedienung plötzlich ausführlich. "Bienenstich", korrigiere ich sacht; irgendwo hupt ein Bus, eine Fliege nervt. "Ach ja." Sie hält in der kratzenden Bewegung inne, als würde sie sich plötzlich an etwas erinnern, dreht sich dann um, traumwandelt Richtung Fleetcafé. Ich sehe ihr nach, bis sie zwischen den bodentiefen Fenstern des Cafés verschwunden ist, in denen sich die Alsterarkaden spiegeln. Sie hat braune Augen; sie hat keinen Ring am zweiten Finger; sie hat nicht mitgeschrieben: hoffentlich kriegt sie das hin.

Natürlich ist es eine große Frage, ob man überhaupt schon etwas bestellen soll, wenn die Verabredung noch nicht da ist. Alte Schule wäre vermutlich das Zuwarten. Ich meine allerdings, dass sichtbares Ausharren einer zeitgemäßen Interpretation der Etikette nicht mehr genügt, deren oberstes Prinzip die ungezwungene Natürlichkeit ist. Nur die ungezwungene Natürlichkeit gibt dem Gegenüber jederzeit das Gefühl, nichts falsch gemacht zu haben. Die Queen hat mir dafür die Augen geöffnet: Elizabeth die Erste hätte grobes Fehlverhalten vielleicht noch mit dem Fallbeil geahndet, Königin Victoria damit unverhohlen gedroht; Elizabeth die Zweite hingegen sieht über falsches Verhalten eines Dritten souverän hinweg. Jemand auf eine Unhöflichkeit, etwa eine Verspätung aufmerksam zu machen, ist selbst ein grober Verstoß gegen die Etikette, ein beinahe unverzeihlicher, der eigentlich den Tod verdient hätte, zumindest den gesellschaftlichen.

Ich nippe an meinem Kamillentee, der inzwischen ganz wie bestellt eingetroffen ist und sehe mich um: Schwäne weiß, Alster glitzernd, Menschen aufgeräumt, Himmel klar, Witterung kühl, aber nicht kalt. Hamburg im September, Hamburg at ist best. Am Nebentisch einige ältere Damen mit und ohne Hut, wie aus einer vergangenen Zeit, allerdings reden sie zu laut. Die Fliege landet auf meinem Bienenstich und krabbelt darauf herum, als wäre das ihr Recht. Na warte. Ich fasse sie ruhig ins Auge, führe meine Hand von vorne an sie heran, greife sie im Abflug, fühle ihren filigranen Flügelschlag als ein Kitzeln in der Faust, werfe sie zu Boden und zertrete sie mit der Ledersohle des rahmengenähten Semi-Brogue. Früher war ich öfter in Hamburg tätig, in letzter Zeit allerdings nicht. Ich esse ein kleines Stück vom Bienenstich. Es wäre unhöflich, vor einer unangebissenen Sahneschnitte sitzen zu bleiben, geradezu eine Anklage.

"Hallo Mi-kel!"

"Hallo!", ich gebe Luis Sepúlveda die Hand, setze mich wieder, schenke ihm ein Lächeln. Sepúlveda knöpft seinen Mantel auf, unter dem ein grauer Anzug zum Vorschein kommt, und lässt seinen massigen Körper vorsichtig Kontakt zum plötzlich zerbrechlich wirkenden Gestühl aufnehmen. Er lächelt zurück: "Wie ist der Bienenstich?" "Gut, sehr gut, nicht die übliche Bäckercrème, sondern eigentlich pure Sahne, die aber eine festere Konsistenz aufweist: hohe Konditorkunst!" Sepúlveda winkt meine körperbetonte Bedienung herbei: "Einmal das Gleiche, bitte. Das ist doch Schwarztee, nein? Dann also einen Schwarztee, Darjeeling bitte, ein Kännchen, - und den Bienenstich!"

Luis Sepúlveda nimmt die Umgebung in sich auf: Das kühle Fleetwasser, den glitzernden Himmel, die aufgeräumte Witterung, die alten Schwäne, die weißen Damen, die weiter deutlich zu laut quasseln, oder wie immer er das alles wahrnimmt, dann mich.

"Was kann ich für Sie tun, Luis?", frage ich zuvorkommend.

"Danke", sagt er zu unserer Bedienung, die vorsorglich nicht zu mir rüber schaut, auch wenn sie mir beim Servieren von Kännchen und Bienenstich so nahe kommt, dass ich ihre körperliche Anwesenheit spüre - und sie die meine. Sie ist eben doch ein Profi, als Frau und in ihrem Metier. Ich schätze Professionalität. Sehr. Sepúlveda zieht den Darjeeling im feinporigen Säckchen zweimal durch das heiße Wasser, lässt den Tee dann in der Kanne ruhen und isst ein Stück Bienenstich, das ihm offensichtlich mundet.

"Ja...", sagt er dann gedehnt und sieht mich an. Eine etwas ungewöhnliche Eröffnung. Ich lächle Sepúlveda aufmunternd zu. Natürlich ist der Name ein Witz, immerhin aber ein guter. Namen sind mehr als Schall und Rauch, müssen Sie wissen. Namen verankern uns und die Dinge, die uns wichtig sind, in der Welt. Sepúlvedas grauer Anzug ist von guter Qualität, er trägt ihn lässig und mit Selbstverständlichkeit. Die Damen am Nebentisch trinken Milchkaffee und sprechen über Geldanlagen. O tempora, o mores! Sepúlveda öffnet die Teekanne, lässt das Säckchen aus der Kanne gleiten und legt es auf einer kleinen Porzellanschale ab, die auf dem Tablett bereit steht: Ein gutes Haus offenbart sich eben im Detail. Warum man in Deutschen dunkelblond sagt, wenn man mittelblond meint, ist mir ein Rätsel. Dunkelblond gilt wohl als schicker. Sepúlveda schenkt sich eine Tasse Tee ein, pustet, trinkt einen Schluck vom vermutlich schadstoffbelasteten Darjeeling. Alsterwasser im Sonnenlicht, einige Graugänse fliegen ein - ich bräuchte mehr Zeit, um zu bestimmen, von woher genau -, und die Schweiz ist auch kein guter Ort mehr für ein Geld, wie ich vom Nachbartisch erfahren muss. Ich kann mich nicht enthalten, einmal kurz hinüberzusehen. Die Wortführende mit schwer ondulierten Haaren, wälzt, während sie spricht, Reste von Lübecker Nuss in ihrem Rachen. Pfui Teufel. Schnell blicke ich zu Sepúlveda zurück.

"Nun, nun", sagt Luis beschwichtigend, der meinen Blick offenbar richtig interpretiert hat, "Sie werden sie deshalb nicht gleich umbringen wollen, oder?" Eine nicht unelegante überleitung, muss ich attestieren, denn jetzt schiebt er mir den Briefumschlag über den Tisch. Ein größeres Format wäre unprofessionell, da es nicht in die Mantel- oder Jackeninnentasche passen würde. Ich schätze Professionalität, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte.

"Was ist das Problem, Luis?", frage ich ihn freundschaftlich, lege die Fingerspitzen meiner Rechten locker auf den Umschlag und schaue in Sepúlvedas grau-blaue Augen. Er lächelt und schweigt. Dann sagt er in normaler Lautstärke: "Es ist eine Frau."

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Sie oder ich ›

Rezension


Glossar des Killers


Arkaden: Überdachter Säulengang. Anzutreffen überall dort, wo Bürger auf eine Weise zu Geld gekommen sind, die sie für anständig halten.

Etikette: Hat nichts zu tun mit dem auf dem Marmeladenglas, sondern bedeutet Umgangsformen, also die Gesamtheit dessen, was man tut und was man lässt. Etikette wandelt sich: Was früher strikt verboten war, kann heute sehr chique sein; zum Beispiel oben ohne auf dem Balkon zu früh-
stücken, mit Biobrot, Aldi-Champagner und dann doch dem Marmeladenglas mit dem Dings drauf.

Metier: Gemeint sind die Fertigkeiten eines Berufesstandes. Im allgemeinen Sprachgebrauch nur dann verwendet, wenn jemand sie beherrscht. Wer Metier für ein englisch-deutsches Kompositum hält, hat von Linguistik keine Ahnung. Oder einen Bachelor gemacht.

Nolens volens: Klingt zwar wie Mir nichts, dir nichts, bedeutet aber: ob man will oder nicht, also eigentlich notwendigerweise.

O tempora, o mores: "Oh Zeiten, oh Sitten". Cicero-Zitat, welches auf den noch von jeder Generation entdeckten, allgemeinen Sittenverfall hinweist, und zwar genau dann, wenn diese Generation in die Jahre kommt.

Professionalität: Modewort. Meistens eine Kompetenzanmaßung. Aus Ihrem Wortschatz eliminieren, falls Sie kein Profikiller sind.

Sepúlveda, Luis: Chilenischer Autor, der lange im Exil leben musste. Schrieb u.a. die Erzählung "Diario di un Killer sentimental".

Selbstdarstellung: Öffentlicher Auftritt, bei dem kleine Lichter sich und ihre bescheidenen Anliegen zu Leuchtturmprojekten der Menschheit aufblasen. Recht so, konsentieren Experten, Aufschneiden ist heute erste Bürgerpflicht: Du existierst nur, wenn du jeden Tag auf allen Kommunikationskanälen penetrant präsent bist. Ach ja? Na gut, du! Dann nimm zur Kenntnis, dass ich im Aufschneiden von Experten und im Ausknipsen kleiner Lichter ein Leuchtturm bin, gesetzt, der Preis stimmt.

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